Revolution der Erziehung – oder Revolution durch Erziehung?

Szene aus einem von Studenten gegründeten Kinderladen in Kiel 1970. Die Kinderläden, die um 1970 flächendeckend in Westdeutschland existierten, waren ein Ergebnis der 68er-Bewegung mit ihrer Forderung nach antiautoritärer Erziehung.
Szene aus einem von Studenten gegründeten Kinderladen in Kiel 1970. Die Kinderläden, die um 1970 flächendeckend in Westdeutschland existierten, waren ein Ergebnis der 68er-Bewegung mit ihrer Forderung nach antiautoritärer Erziehung. © Holger Rüdel

Vorwort

Aufnahmen aus meiner Bildserie „Antiautoritärer Kinderladen versus evangelischer Kindergarten 1970“ sind schon mehrfach veröffentlicht, in Ausstellungen gezeigt und zeitgeschichtlich bzw. erziehungswissenschaftlich analysiert worden. In einer wissenschaftlichen Hausarbeit befasste sich die Hildesheimer Studentin Julia Katharina Molina Galindo jetzt erstmals intensiv mit einem bisher weniger beachteten Einzelmotiv aus der Reportage. Ich habe die Autorin eingeladen, eine Zusammenfassung ihrer Betrachtung hier als Gastbeitrag zu veröffentlichen. 

Holger Rüdel


Revolution der Erziehung – oder Revolution durch Erziehung? 

These Nr. 1: „Erziehung sorgt nur dafür, dass die Gesellschaft so bleibt, wie sie ist.“ Dagegen These Nr. 2: „Erziehung ist ein Ort von Revolution.“

Was davon stimmt? Was kann Erziehung leisten und was nicht? Das obenstehende Foto, aufgenommen von Holger Rüdel 1970, setzt jedenfalls eindeutig „Revolution“ mit einem Kind in Beziehung. Um darüber nachzudenken, wie dieses Foto verstanden werden könnte, ist es wichtig, den Kontext zu kennen.

Die Entstehung der Kinderläden Ende der 1960er Jahre

Das Foto wurde 1970 in einem sogenannten „Kinderladen“ in Kiel geschossen und ist Teil der Fotoserie „Kinderladen versus Kindergarten“, mittels derer der Fotograf markante Unterschiede im pädagogischen Konzept dieser zwei Betreuungseinrichtungen aufzeigen wollte. Die Kinderläden entstanden im Rahmen der sogenannten „68er“, jener kulturpolitischen und sozialen Protestbewegung, welche in Deutschland in den 60er-Jahren ihren Ausgang fand.

Sie umfasste vielfältige Strömungen unter der ihr zugeschriebenen Chiffre „68“, so auch, neben den populären Studierendenprotesten um Rudi Dutschke, die „Kinderladen-Bewegung“, entstanden in Zusammenhang mit der emanzipatorischen Frauenbewegung in Berlin und Frankfurt. Vor allem junge Akademikerinnen und Studentinnen gründeten aus dem Mangel an und der miserablen Qualität von vorhandenen Kindergärten in alten Ladengeschäften der Großstädte selbstverwaltete Betreuungseinrichtungen, die sogenannten „Kinderläden“. Kinder sollten dort betreut werden, damit ihre Mütter arbeiten und studieren konnten und nicht mehr abhängig waren vom Ehemann, der im konservativen Familienbild der 50er Jahre als Alleinernäher der Familie galt.

Deswegen wurden Kinderläden als Teil der kulturpolitischen Erneuerung konservativer Rollen-, Geschlechter- und Erziehungsauffassungen verstanden, denn das Private – so der emblematische Satz Helke Sanders, Ikone der Frauenbewegung –  sei politisch. Sie wollten da ansetzen, wo in ihren Augen „veraltete“ soziale Werte und Praktiken der konservativen Nachkriegsgesellschaft weitergegeben wurden, nämlich in der Erziehung der Kinder. Diese sollten in Abgrenzung zum Nationalsozialismus nicht mehr zum „Duckmäusertum“, zu autoritätsgläubigen Menschen erzogen werden, sondern eben „antiautoritär“, zu selbstdenkenden, kritischen und freien Persönlichkeiten.

Kinderläden – ein Mythos?

Daraus entstand in der Öffentlichkeit schnell ein Mythos. Einerseits, weil der antiautoritäre Protest verschiedenster Ausrichtung, ob in psychoanalytischer, sexualrevolutionärer, sozialistischer oder antinazistischer Hinsicht, dort reale Anwendung fand. Andererseits, weil die antiautoritären Praktiken in diesen Kinderläden, 1969 öffentlichkeitswirksam präsentiert durch Gerhard Botts Dokumentarfilm „Erziehung zum Ungehorsam“, von konservativer Seite als abartig und bedrohlich dargestellt wurden, als Anstalten des Sitten-und Moralverfalls. Den oft politisch orientierten Eltern wurde vorgeworfen, nicht nur die Erziehung revolutionieren zu wollen, sondern die Revolution gerade durch die veränderte Erziehung herbeizuführen.

Die Botschaft des Bildes 

Vor diesem Hintergrund erscheint die obenstehende Fotografie als starkes, pädagogisches Symbol, weil sie transportiert, dass Erziehung nicht nur Ort von gesellschaftspolitischer Revolution sein kann, wie sich mit den Kinderläden bewies, sondern dass Erziehung gleichzeitig selbst revolutionär wirken kann. Zum Beispiel, weil Kinder sich frei entfalten konnten und bekritzelte Wände, wie auf dem Foto zu sehen, Ausdruck einer Kinderrevolution waren, bei der sich Kinder aus der autoritären Vorherrschaft und Verbotskultur der Erwachsenen befreiten. Einige sahen darin Anarchie und Verfall, andere Stärke und Selbstbemächtigung. Die Botschaft bleibt also ambivalent und mehrdeutig.

Gleichzeitig zeigt sich aber auch ein paradoxer Gegensatz im Bild. Während der Hintergrund wild und chaotisch erscheint, Adjektive, die in der Öffentlichkeit immer wieder diffamierend für die angeblichen „Gammler“ der Studierendenrevolte benutzt wurden, wirkt das Kind fast gewaltsam in diesen Kontext gestellt. Das ängstlich erschrockene Gesicht des kleinen Kindes, seine aufgerissenen Augen und der offene Mund, könnten zur Interpretation führen, dass hier ein „unschuldiges Kind“ für die Zwecke einer Studierendenrevolte politisch instrumentalisiert wird. Besonders die Gitterstäbe, Objekt der Assoziation mit einem Gefängnis, lassen zu, dass sich der/die Betrachter*in fragen könnte, ob hier ein Kind in eine Einrichtung eingesperrt wird, bei der es quasi zur Gallionsfigur einer selbstbenannten „Revolution“ wird.

Außerdem wirkt die Perspektive von draußen fast investigativ, so, als ob der Fotograf in die chaotischen Vorgänge in diesen Kinderläden plötzlich eindringen und diese quasi aufdecken würde. Nicht wenige warfen den Kinderläden schließlich Verwahrlosung bis Misshandlung der Kinder vor. Während die Botschaft der antiautoritären Erziehung ja gerade Selbstbemächtigung gegen Autoritäten, kindliches Selbstbewusstsein und Freiheit war, wirkt das Kind in dieser Szene aber teilweise wie ein Opfer. Opfer des Fotografen, auf den es ängstlich oder erschrocken blickt, und möglicherweise Opfer einer „Revolution“, in der es, übertrieben gesagt, zum „Versuchskaninchen“ wurde.

Damit könnte den Vorwürfen Rechnung getragen werden, die antiautoritäre Erziehung instrumentalisiere die Kinder für die politische Revolte, sie übe also genau jene Autoritätsmacht über die Kinder aus, die sie gerade suchte, abzuschaffen.

Fazit

Mein Fazit dieser kurzen Bildanalyse lautet: Die Fotografie wirft viele Fragen nach dem historischen sowie pädagogischen Zusammenhang auf, fordert zum Nachdenken heraus und lässt unterschiedliche Deutungen zu, je nach verwendetem Kontext und je nach Betrachter*in. Das macht das Bild aus meiner Sicht besonders spannend.

Der französische Fotograf Henri Cartier-Bresson sagte einmal: ‚Ein gutes Foto ist ein Foto, auf das man länger als eine Sekunde schaut.‘ Das ist bei dem Kinderladen-Motiv von 1970 mit Sicherheit der Fall.

 

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