Die Magie der Infrarot-Fotografie
1910 vom US-amerikanischen Physiker Robert Williams Wood entdeckt, wurde die Infrarot-Fotografie – das Aufzeichnen von Lichtbildern im Spektrum unsichtbarer infraroter Strahlen – lange Zeit nur für wissenschaftliche, militärische und kriminalistische Zwecke genutzt.
Krieg und Popkultur: Infrarot-Fotografie in den 1960er Jahren
Das galt zunächst auch noch in den 1960er Jahren, als Kodak einen optimierten „Falschfarben-Infrarotfilm“, den Aerochrome 1443, herausbrachte. Mit diesem Film konnte die Luftaufklärung der USA zum Beispiel im Vietnamkrieg sehr präzise die Wirkung ihres hochgiftigen Entlaubungsmittels „Agent Orange“ prüfen, das zwischen 1962 und 1971 großflächig über dem Dschungel versprüht wurde. Ziel war die Entlaubung der dichten Wälder, um die Verstecke und Versorgungswege des Vietcong aufzudecken.
Überraschend entwickelte sich jedoch zeitgleich eine alternative Nutzung der Infrarot-Aufnahmetechnik: Im Sog der Popkultur der 1960er Jahre entdeckten Fotografen, Designer und Musiker die surreale Wirkung farbiger infraroter Lichtbilder als Chance zur Produktion visueller Kompositionen mit psychodelischer Wirkung. So brachten zum Beispiel Jimi Hendrix, Donovan, Frank Zappa und die Band Grateful Dead Platten mit bunten Infrarot-Aufnahmen auf dem Cover heraus. Die Gruppe U2 entschied sich 1984 für ein schwarzweißes Infrarotbild, das auf dem Cover ihres Albums „The Unforgettable Fire“ erschien.
Die Grenzen der infraroten Technik in der analogen Ära
Dennoch blieb die Infrarot-Fotografie im Zeitalter der analogen Bildaufzeichnung ein exotisches Medium. Das lag vor allem an der mühsamen Aufnahmetechnik mit Filtern, Stativen und langen Belichtungszeiten. Schnelle Schüsse waren – abgesehen von dem erwähnten „Falschfarben-Infrarotfilm“ – nicht machbar. Bei den anspruchsvoll in Szene gesetzten Bildern aus dieser Zeit handelt es sich insofern fast ausschließlich um Landschaftsmotive.
Zu den bedeutenden Vertreter dieses Genres zählen der US-Amerikaner Minor White und der Italiener Elio Ciol. Ihre Arbeiten waren – und sind – wichtige Argumente für die Anerkennung der Infrarot-Fotografie als künstlerische Ausdrucksform. Galt sie doch in der fotografischen Szene lange als Spielerei, die keine ernsthafte Beachtung verdient.
Diese kritische Distanz wurde genährt durch die Tatsache, dass eine romantisierende Anmutung vor allem im Amateurbereich beliebt war und weniger die subtile, sorgfältig abgestimmte Ästhetik. Die klischeehafte Nutzung der infraroten Technik wurde befeuert durch wohlmeinende Veröffentlichungen in diversen Fachpublikationen über die „Traumwelten“, die sich dank des Wood-Effektes mit infraroter Fotografie erzeugen ließen.
So schwärmte 1970 der Autor eines Beitrags über den „Zauber des Infrarotfilms“:
Mit Infrarotfilm lassen sich Landschaftsaufnahmen von eigenartig unheimlicher Schönheit aufnehmen, in der die Welt aussieht, als wäre sie mit Mondlicht übergossen.
„Der Zauber des Infrarotfilms“, in: „Licht und Film“, Time-Life-Reihe „De Photographie“, S. 148.
Infrarot-Fotografie im digitalen Zeitalter
Die digitale Revolution in der Fotografie führte an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zu einer wahren Entfesselung der infraroten Aufnahmetechnik, denn der Sensor einer Digitalkamera ist auch für Infrarotwellen sensibilisiert. Nach einem Austausch des internen Filters vor dem Sensor erhält man eine voll funktionstüchtige Infrarotkamera und damit eine fast grenzenlose Freiheit in der fotografischen Praxis – mit kurzen Belichtungszeiten, uneingeschränktem Autofokus und Belichtungswerten nahe am optimalen Ergebnis. Außerdem entfallen lästige objektivseitige Filter.
Dieses Verfahren habe ich in meinem Beitrag „Digitale Infrarotfotografie mit Nikon-Kameras in der Praxis“ ausführlich beschrieben.
Die Befreiung der Infrarot-Fotografie von den Zwängen der analogen Ära führte dazu, dass sich eine wachsende Zahl von Künstlern mit diesem Medium befasste und in ihr Portfolio integrierte. Ein Virtuose im Einsatz der schwarzweißen Infrarot-Variante ist Jim Brandenburg aus den USA. Er nutzt die Infrarottechnik nicht um ihrer selbst willen, sondern immer nur dann, wenn ein Motiv im infraroten Licht eine besondere ästhetische Kraft und Anmutung erhält. In einem Gespräch sagte er:
Mich reizt der große Tonwertumfang dieser Aufnahmen. Er erinnert mich an die Werke der klassischen Schwarzweiß-Fotografie, wie sie Ansel Adams geschaffen hat. Natürlich könnte ich über Photoshop mit Konvertierungsfiltern synthetische Infrarot-Bilder von normalen farbigen oder schwarzweißen Aufnahmen erzeugen. Man würde es vielleicht nicht unbedingt sehen. Ich bin aber Purist, und ich will das beste Ergebnis – und ein ehrliches. Deshalb fotografiere ich Infrarot direkt – ohne Wenn und Aber.
Perspektiven
Ob die Infrarot-Fotografie als künstlerisch-kreatives Medium eine Zukunft hat, lässt sich nicht vorhersagen. In der wissenschaftlichen Anwendung dagegen sorgte sie kürzlich weltweit für Schlagzeilen: Das neuentwickelte James-Webb-Teleskop der US-Weltraumbehörde lieferte infrarote Aufnahmen von Galaxien, die vor mehr als 13 Milliarden Jahren kurz nach dem Urknall entstanden waren. „Ein historischer Moment für Wissenschaft und Technik“, erklärte US-Präsident Biden.
Dieses Forschungsergebnis zeigt einmal mehr: Fotografieren im Bereich unsichtbarer infraroter Strahlen – das ist das Eintauchen in eine andere visuelle Welt. Und genau darum ist die Infrarot-Fotografie, vor allem in ihrer schwarzweißen Variante mit der Reduktion auf das Wesentliche, dazu prädestiniert, traditionelle Sehgewohnheiten aufzubrechen.
Darin besteht die Magie der Infrarot-Fotografie.
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